Die vestibuläre Hypofunktion oder Vestibulopathie gehört mit 15,4 % aller vestibulären Diagnosen zur der dritthäufigsten Diagnose bei vestibulären Störungen (Strupp et al., 2013). Hypofunktion bedeutet weniger Funktion. Eine vestibuläre Hypofunktion bedeutet also, dass die vestibuläre Funktion abnimmt. Das Vestibularorgan ist ein Organ, und genau wie andere menschliche Strukturen (Muskeln, Herz oder Lunge) kann auch das Vestibularorgan in seiner Funktion nachlassen. Dies wird noch deutlicher, wenn man die Synonyme betrachtet: Vestibuläre Unterfunktion / vestibuläre Untererregbarkeit/ vestibuläre Schwäche / vestibuläre Parese / vestibulärer Ausfall / vestibuläres Defizit. Der Begriff "Vestibulopathie" wird erfahrungsgemäß am häufigsten von Ärzten für eine vestibuläre Unterfunktion genutzt!
Viele verschiedene Erkrankungen können eine vestibuläre Unterfunktion verursachen. Die häufigsten Ursachen sind:
Die Neuritis Vestibularis (oder Neuropathia Vestibularis) wird auch 'akute einseitige Vestibulopathie' genannt. Wir nennen sie "akut", weil der Verlust des Gleichgewichtsorgans von jetzt auf gleich auftritt. Bei anderen Erkrankungen, die zu einer Vestibulopathie führen, entwickeln sich Symptome eher schleichend, wohingegen ein "akuter Ausfall" des Gleichgewichtsorgans (der bei Neuritis Vestibularis auftritt) sofort zu dramatischen Symptomen führt. Dementsprechend ist dies die Vestibulopathie, die mit die schwersten akuten Symptomen verursacht und viele Betroffene noch am selben Tag in die Notaufnahme bringt!
Diese akuten Symptome sind (Fetter, 2014) ...
Diese sehr akuten Symptome klingen in der Regel nach 48 bis 72 Stunden ab, und die allmähliche Rückkehr zum normalen Gleichgewicht erfolgt nach etwa 6 Wochen (Fetter, 2014). Einige Menschen mit Neuritis Vestibularis können chronischen Schwindel entwickeln, da die Neuritis Vestibularis zu einem Verlust von Haarzellen, einer "Epithelisierung" des Utriculus und der Cristae der Bogengänge sowie zu einer verringerten synaptischen Dichte im den Vestibulariskernen führen kann (Hain, 2020a). Auf diese chronischen Symptome werde ich später eingehen.
Da ich vom Begriff 'akut' sofort zu den akuten Symptomen übergegangen bin, habe ich die Ursachen der Neuritis bzw. Neuropathia Vestibularis noch nicht genannt. Wie der Begriff -itis andeutet, wird diese vestibuläre Störung durch eine Entzündung verursacht. In diesem Fall ist der Gleichgewichtsnerv entzündet, weshalb man von einer Neuritis Vestibularis spricht. Wenn das gesamte Innenohr (das Labyrinth) entzündet ist, spricht man von einer Neuritis / Nauropathia Labyrinthitis. Durch die Entzündung wird die Übertragung der sensorischen Informationen vom Innenohr zum Gehirn gestört, was die akuten Symptome erklärt. Die Neuritis Vestibularis verursacht vestibuläre Symptome (d. h. Gleichgewichtsstörungen und Schwindel), und die Labyrinthitis betrifft beide Strukturen - das Vestibularorgan und die Hörschnecke - so dass die Menschen in diesem Fall vestibuläre Symptome und Hörprobleme haben (Shupert & Kulick, 2013).
Infektionen des Innenohrs sind in der Regel viral und seltener bakteriell bedingt (Shupert & Kulick, 2013). Bei der Neuritis Vestibularis wird angenommen, dass das Virus, das die Infektion verursacht, in der Regel zur Familie der Herpesviren gehört, wie z. B. die Viren, die Lippenherpes, Windpocken und Gürtelrose verursachen (Hain, 2020a). Bei der Labyrinthitis geht man davon aus, dass im Allgemeinen Viren die Infektion verursachen (z. B. Herpesviren, Influenza, Masern, Röteln, Mumps, Polio, Hepatitis und Epstein-Barr), aber in seltenen Fällen kann die Labyrinthitis die Folge einer bakteriellen Mittelohrentzündung sein (Hain, 2020a).
Die Diagnose und Behandlung der Neuritis / Neuropathia Vestibularis und der Labyrinthitis werden später erläutert. Wie ich bereits schrieb, führt die Neuritis Vestibularis zu einer vestibulären Hypofunktion, und die Diagnose und Behandlung der vestibulären Hypofunktion ist die gleiche, unabhängig von der primären Ursache.
"Oto" bedeutet Ohr und "Toxizität" bedeutet Vergiftung. Wenn wir von Ototoxizität sprechen, meinen wir nicht das Ohr im Allgemeinen, sondern das Innenohr (Gleichgewichtsorgan und Hörschnecke). Bei den Substanzen, die das Innenohr vergiften können, handelt es sich um Chemikalien und Medikamente.
Es gibt viele Umweltchemikalien, die für das Innenohr giftig sein können. Dazu gehören chemische Lösungsmittel (z. B. Schwefelkohlenstoff, Hexan, Toluol, Xylol, Steren und Trichlorethylen), Erstickungsmittel (z. B. Kohlenmonoxid, Wasserstoff, Tabakrauch), Nitrile und bestimmte Metalle (Quecksilber, Zinn, Blei usw.) (Bostwick, 2019). Da die toxische Wirkung dieser Chemikalien inzwischen besser bekannt ist, schränken die Regierungen einige Chemikalien in Produkten ein oder verbieten sie sogar. Die Industrie versucht außerdem, gefährliche Chemikalien durch weniger giftige zu ersetzen. Die meisten Untersuchungen über ototoxische Umweltchemikalien konzentrierten sich auf das Gehör, und tatsächlich wurden die genannten ototoxischen Umweltchemikalien mit einem erhöhten Risiko für Hörverlust in Verbindung gebracht (Johnson & Morata, 2010).
Es gibt auch viele ototoxische Medikamente, die ich in diesem Zusammenhang erwähnen muss. Man unterscheidet zwischen Medikamenten, die eine reversible Wirkung und eine irreversible Wirkung haben. 'Reversibel' bedeutet, dass sich die toxische Wirkung vermindert oder verschwindet, wenn Sie die Einnahme des Medikaments beenden. 'Irreversibel' bedeutet, dass die Schädigung des Innenohrs bleibend ist. Wir unterscheiden auch zwischen vestibulotoxischen und cochleatoxischen Medikamenten. Vestibulotoxische Medikamente verursachen vestibuläre Symptome, nämlich Gleichgewichtsstörungen und Schwindel. Cochleatoxische Medikamente verursachen Symptome, die das Gehör betreffen, wie Hörverlust oder Tinnitus.
Einige Schleifendiuretika (Bumetanid, Etacrynsäure, Furosemid und Piretanid), Chinin-Derivate (Chininsulfat, Chinidin, Chloroquin, Hydroxychloroquin und Mepacrin) und NSARs & Schmerzmittel (Aspirin, Arthrotec®, Diclofenac, Excedrin®, Ibuprofen, Indometacin, Ketorolac, Mesalazin, Nabumeton, Naproxen, Paracetamol und Piroxicam) sind cochleatoxisch (Hain, 2019). Bevor Sie jeden warnen, der ab und zu ein Aspirin einnimmt: Diese Medikamente müssen täglich in einer hohen Dosis eingenommen werden, um langfristig toxisch zu sein. Es ist also in Ordnung, ab und zu ein Schmerzmittel zu nehmen. Wenn Sie mit chronischen Schmerzen jedoch über Hörverlust oder Tinnitus klagen, sollten Sie die Dosis des cochleatoxischen Medikaments überprüfen und mit ihrem Arzt darüber zu sprechen.
Die vestibulotoxischen Medikamente verursachen leider irreversible Schäden. Warum verursachen diese Medikamente dauerhafte Schäden? Die Toxizität greift primär die Sinneshaarzellen an. Tierversuche haben deutlich gezeigt, dass diese Schäden dauerhaft sein können, da sich die Sinneshaarzellen bei den meisten Säugetierarten nicht oder nur in sehr begrenztem Umfang regenerieren können (Sedo-Cabezon et al., 2014). Zu den ototoxischen Medikamenten, die das Gleichgewichtsorgan dauerhaft schädigen können, gehören Aminoglykosid-Antibiotika, Chemotherapeutika und Amiodaron (Hain, 2019).
Amiodaron ist ein Herzmedikament, das zur Behandlung von Herzrhythmusstörungen verschrieben wird. Es liegt auf der Hand für welche Erkrankungen Chemotherapeutika erforderlich sind. Und wofür werden Aminoglykosid-Antibiotika verschrieben? Aminoglykoside sind sehr starke Antibiotika, die daher bei sehr schweren und lebensbedrohlichen Infektionen verschrieben werden. Eine solche Infektion, die Aminoglykoside erfordert, ist zum Beispiel eine Endokarditis (Spiegel et al., 2017).
Ototoxizität durch systemisches Gentamicin ist wahrscheinlich der Wirkstoff, der am häufigsten vestibuläre Störungen verursacht, während andere überwiegend vestibulotoxische Aminoglykoside (wie Streptomycin) selten vorkommen (Hain, Cherchi, & Yacovino, 2013). Tobramycin ist das am zweithäufigsten auftretende ototoxische Antibiotikum, da es oft bei Mukoviszidose eingesetzt wird (Hain et al., 2013). Inhaliertes Tobramycin wird jedoch nicht mit signifikanter Ototoxizität in Verbindung gebracht; dieses Problem ist hauptsächlich auf Personen beschränkt, denen Tabramycin intravenös verabreicht wird (Hain et al., 2013). Aminoglykoside werden auch gegen Pseudomonas aeruginosa-Infektionen eingesetzt (Horcajada et al., 2019).
Zusammengefasst: Amiodaron, Chemotherapeutika und Aminoglykoside (insbesondere Gentamicin) sind toxisch für das Vestibularorgan und verursachen dauerhafte Schäden am Gleichgewichtsorgan. Aminoglykoside erkennt man an der Endung: Alle Aminoglykoside enden auf "-micin" oder "-mycin".
Das Akustikusneurinom, auch Vestibularisschwannom genannt, ist - wie der Name schon sagt - ein Tumor, der von den Schwannzellen des achten Hirnnervs entsteht. Da es sich um einen nicht bösartigen Tumor handelt, wird als erste Maßnahme die 'Wait-and-Scan-Strategie' empfohlen. Die European Academy of Otology and Neuro-Otology (EAONO) schlägt vor (Somers et al., 2018), dass ...
Wenn der Tumor größer wird, kann ein chirurgischer Eingriff unumgänglich sein. Die Behandlung besteht in der Regel in der chirurgischen Entfernung des Tumors, aber auch eine Bestrahlung mit dem Gamma-Knife ist eine Option (Schubert, 2019). Neben vestibulären (Gleichgewichtsstörungen und Schwindel) und cochleären Symptomen (Hörverlust und Tinnitus) kann der Tumor auch den Gesichtsnerv beeinträchtigen, was zu Taubheitsgefühlen im Gesicht und in schlimmeren Fällen sogar zu Gesichtsparesen oder -lähmungen auf der Seite des Tumors führen kann (NIDCD, 2015).
Die vestibuläre Rehabilitation ist während der 'Wait-and-Scan-Strategie' und nach der Operation sehr wichtig. Während der 'Wait-and-Scan-Strategie' entwickeln die Patienten eine vestibuläre Unterfunktion, da der Tumor zunehmend auf den Gleichgewichtsnerv drückt. Nach der Operation geht der größte Teil der einseitigen vestibulären Afferenz verloren (vestibulärer Verlust) und das Gehirn nimmt dann einen asymmetrischen vestibulären Input wahr, was unbedingt eine vestibuläre Rehabilitation erfordert, um die Symptome langfristig zu verringern (Schubert, 2019). Die genauen Symptome und die Behandlung werden später besprochen.
Meningitis: Unabhängig davon, ob es sich um eine infektiöse, autoimmune oder chemische Meningitis handelt, kann der Entzündungsprozess leicht über den vestibulären und cochleären Aquädukt in das Labyrinth eindringen (Hain et al., 2013). Hain et al. erklären auch, dass die vestibulären und cochleären Aquädukte bei Kindern offener sind als bei Erwachsenen, was der Grund dafür sein könnte, dass Meningitis bei Kindern häufiger zu Innenohrdefekten führt als bei Erwachsenen. Schließlich stellen die Autoren fest, dass bei Patienten, die eine bakterielle Meningitis hatten, die vestibuläre Funktion aufgrund der Verknöcherung des Labyrinths im Laufe der Jahre oft allmählich verloren geht.
Polyneuropathie: Neuropathie ist ein Sammelbegriff für Krankheiten, die Störungen des peripheren Nervensystems verursachen. Der Gleichgewichtsnerv ist ein Nerv und kann daher durchaus von einer Neuropathie betroffen sein. Tatsächlich wurde eine vestibuläre Hypofunktion bei 81 % der Patienten mit überwiegend axonaler und bei 63 % der Patienten mit überwiegend demyelinisierender Polyneuropathie festgestellt (Palla et al., 2009). Außerdem war die Wahrscheinlichkeit, eine vestibuläre Störung zu haben, bei Menschen mit Diabetes mellitus um 70 % höher (Agrawal et al., 2009). Diabetes ist die häufigste Ursache für Polyneuropathie (Sommer et al., 2019) und große bevölkerungsbasierte Studien zeigen, dass Patienten mit Diabetes eher eine vestibuläre Störung entwickeln (Piker & Romero, 2019).
Progressive neurologische Erkrankungen: Progressive neurologische Erkrankungen wie Multiple Sklerose (MS) und die Parkinson-Krankheit (PD) können zu einer vestibulären Hypofunktion führen. MS kann den Gleichgewichtsnerv dort beeinträchtigen, wo er in den Hirnstamm eintritt (Schubert, 2019). Studien deuten darauf hin, dass vestibulär-evozierte myogene Potenziale (ein klinischer Test zur Beurteilung der Otolithenfunktion) bei Patienten mit Morbus Parkinson abnormal sind und dass Morbus Parkinson zu Abnormalitäten des vestibulo-okularen Reflexes führen kann (Smith, 2018). Den vestibulo-okulären Reflex erkläre ich später.
Autoimmunkrankheiten: Es gibt viele systemische Autoimmunerkrankungen, die eine audiovestibuläre Störung verursachen können. Dazu gehören Morbus Behçet, Cogan-Syndrom, Sarkoidose, autoimmune Schilddrüsenerkrankungen, Vogt-Koyanagi-Harada-Syndrom, rezidivierende Polychondritis, systemischer Lupus erythematodes und Antiphospholipid-Syndrom (Girasoli et al., 2018). Die genauen Ursachen für die audiovestibuläre Störung können bei jeder Erkrankung unterschiedlich sein. Um ein paar Ursachen zu nennen, können wir das Cogan-Syndrom als Beispiel nehmen. Es gibt Theorien, dass (A) Autoantikörper gegen das Innenohr freigesetzt werden und (B) Infektionserreger eine überempfindliche Autoimmunreaktion gegen das Innenohr auslösen (Russo et al., 2018).
Angeborene Störungen/Fehlbildungen: Eine Vielzahl von angeborenen Störungen wurde mit Fehlbildungen des Vestibularorgans in Verbindung gebracht, aber nur sehr wenige sind ausreichend untersucht worden. Die Mondini-Dysplasie (Fehlbildung des Innenohres) und das CHARGE-Syndrom sind am häufigsten mit einer Aplasie (Fehlen / mangelnde Entwicklung) der Bogengänge verbunden (Hain et al., 2013). Hain et al. erklären, dass Mondini-Fehlbildungen und damit verbundene Entwicklungsanomalien bei Personen mit beidseitiger angeborener Taubheit häufig vorkommen.
Presbyvestibulopathie: Die altersbedingte Verschlechterung der peripheren sensorischen Strukturen und die daraus resultierenden sensorischen Beeinträchtigungen kommen bei älteren Erwachsenen häufig vor: 15 % der Menschen im Alter von ≥70 Jahren haben eine Sehschwäche (Presbyopie) und 26 % der Menschen im Alter von ≥70 Jahren haben eine Hörschwäche (Presbycusis) (Agrawal et al., 2019). Agrawal et al. stellen außerdem fest, dass bevölkerungsbasierte Studien darauf hindeuten, dass die vestibuläre Unterfunktion bei älteren Erwachsenen sehr häufig vorkommt (fast 50 % der über 60-Jährigen weisen irgendeine Form von vestibulärem Verlust auf), dass Schwindel und Gleichgewichtsstörungen zu den häufigsten Symptomen bei älteren Erwachsenen gehören und dass eine altersbedingte Verschlechterung der vestibulären Funktion bekanntermaßen erhebliche Auswirkungen auf Haltungsschwächen, Gangstörungen und Stürze hat.
Leider gibt es keine internationalen Diagnosekriterien für die vestibuläre Hypofunktion im Allgemeinen. Aber die Barany-Gesellschaft hat internationale Diagnosekriterien für die bilaterale Vestibulopathie entwickelt (Strupp et al., 2017). Auch hier ist Vestibulopathie ein Synonym für vestibuläre Hypofunktion. Das Beispiel der beidseitigen Vestibulopathie ist besonders, weil es die extremste Form einer vestibulären Unterfunktion ist. Nichtsdestotrotz kann man diese Diagnosekriterien minimal umformuliert auch für die vestibuläre Unterfunktion im Allgemeinen nutzen:
A. Vestibuläres Syndrom mit den folgenden Symptomen:
B. Keine Symptome im Sitzen oder Liegen unter statischen Bedingungen
C. Reduzierte oder fehlende Funktion des VOR (vestibulo-okulären Reflexes), dokumentiert durch:
D. Nicht besser durch eine andere Erkrankung erklärbar
Punkt A. 1. - A. 3. werde ich gleich erklären. Punkt B ist sehr wichtig, denn die vestibuläre Unterfunktion / Vestibulopathie macht keinen Dauerschwindel, in Ruhe (Sitzen oder Liegen) haben Patienten mit vestibulärer Hypofunktion / Vestibulopathie keine Symptome. Ein Dauerschwindel deutet häufig auf einen psychosomatischen Schwindel hin (Link zum ausführlichen Beitrag).
Zu Punkt C würde ich unbedingt ergänzen, dass die kalorische Prüfung (Durchspülung des Gehörgangs) sehr viele Fehlerquellen hat und daher bei jedem Patienten unbedingt die Kombination aus Video-Kopf-Impuls-Test und kalorischer Prüfung zu empfehlen wäre. Warum die kalorische Prüfung viele Fehlerquellen hat und warum zusätzlich immer der Video-Kopf-Impuls-Test gemacht werden sollte, erkläre ich ausführlich unter "Häufig gestellte Fragen zu Schwindel".
Um Hauptsymptome einer vestibuläre Unterfunktion (Punkt A. 1. - A. 3.) zu erklären, muss die Physiologie und Funktion des Gleichgewichtsorgans (Vestibularorgans) verstanden werden. Zwei physiologische Aspekte machen deutlich, wozu eine vestibuläre Störung führt und welche Aktivitäten dadurch besonders eingeschränkt werden.
Das Gleichgewicht wird durch das visuelle, vestibuläre und somatosensorische System reguliert. Neben den Augen (visuelles System) und dem Innenohr (vestibuläres System) leiten auch die „Fühler“ der Fußsohlenhaut (Oberflächensensibilität) und der Gelenke (Tiefensensibilität) Informationen an die Gleichgewichtszentren weiter. Die Oberflächen- und Tiefensensibilität wird als somatosensorisches System zusammengefasst.
Die Gleichgewichtszentren liegen im Gehirn, im Hirnstamm. Hier wird die Information der drei Systeme verarbeitet und als Folge dessen über Nerven wieder Reaktionen an die Endorgane (z.B. Augen und Muskeln) gesendet. Hierdurch wird das, was wir sehen, und auch das Gleichgewicht bei Bewegung stabil gehalten.
Da die drei Systeme zusammenarbeiten, wird der Ausfall eines Systems dafür sorgen, dass die anderen beiden Systeme mehr arbeiten, um die Schwäche oder den Ausfall eines Systems zu kompensieren. Bleiben wir beim Beispiel des Gleichgewichtsorgans. Wird also das Vestibularorgan beschädigt, so müssen die anderen beiden Systeme die Schwäche (Schwachstelle) kompensieren. Bei den dann noch funktionierenden Systemen handelt es sich um das visuelle und um das somatosensorische System. Anders gesagt: Wenn die Informationen des Vestibularorgans wegfallen, dann müssen die Augen und die „Fühler“ der Fußsohlenhaut und der Gelenke dieses Defizit ausgleichen.
Bei dieser Kompensation handelt es sich um eine falsche Kompensation! Denn sobald eines dieser eben erwähnten Systeme zusätzlich ausfällt, verschlimmert sich die Gleichgewichtsstörung wesentlich. Übernehmen z.B. die Augen die Kompensation der vestibulären Schwäche, wird besonders in einer dunklen Umgebung die Störung des Gleichgewichts verschlimmert, da die Augen im Dunkeln nicht kompensieren können. Das heißt, Gleichgewichtsstörungen, die besonders im Dunkeln auftreten, sind typisch für eine vestibuläres Defizit!
So verhält es sich auch, wenn das somatosensorische System versucht, die vestibuläre Schwäche auszugleichen. Das Fortbewegen auf unebenen Untergründen (z. B. der Wald- oder Strandspaziergang) verstärkt massiv die Gangunsicherheit und somit das Gleichgewichtsproblem. Das heißt, Gleichgewichtsstörungen, die besonders auf unebenen Untergründen auftreten, sind ebenfalls typisch für eine vestibuläre Schwäche!
Der vestibulo-okuläre Reflex ist der Reflex zwischen den Vestibularorganen und den Augen. Die Augen sind über das Gehirn direkt mit den Gleichgewichtsorganen verbunden. Dieser Reflex stimuliert bei passiven, unbewussten Bewegungen des Kopfes automatisch Gegenbewegungen der Augen, damit die Welt um uns herum „stabil“ gehalten bzw. wahrgenommen werden kann.
Dies kann sehr gut am Beispiel des Gehens erklärt werden. Wenn der Mensch geht, bewegt sich der Kopf auf vertikaler Ebene hoch und runter. Diese Bewegung ist sehr klein und findet passiv und unbewusst statt. Der vestibulo-okuläre Reflex bewirkt, dass die Augen eine Gegenbewegung machen. Wenn sich der Kopf leicht nach oben bewegt, bewegt sich das Auge nach unten und umgekehrt. Durch diese Gegenbewegung wird die Umgebung auf der Netzhaut stabil gehalten.
Ist die Funktion des Gleichgewichtsorgans vermindert, so kann auch dieser Reflex ausfallen. Das heißt, während des Gehens findet von den Augen keine Gegenbewegung zu den Kopfbewegungen statt. Die Augen und der Kopf nehmen also dieselbe Bewegungsrichtung an. Das führt dazu, dass der Betroffene entweder die Umgebung beweglich wahrnimmt oder meint, er bewege sich selbst. Diese falsche Wahrnehmung erzeugt Schwindel (Beispiel: Bewegt sich das Auto vor uns oder der Zug neben uns, so denken wir, dass sich unser Auto / Zug bewegt).
Dieses Phänomen merken die Betroffene vor allem akut (z. B. nach Akustikurneurinom-Operation oder Neuritis Vestibularis), aber subakut entwickeln, auch in diesem Fall, fast alle Betroffenen falsche Kompensationen. Wenn der vestibulo-okuläre Reflex nicht die Umgebung stabil hält, so wird einfach der Kopf möglichst stabil gehalten! Das Gehirn „merkt und speichert“ die konstante Fixierung des Kopfes auf der Halswirbelsäule. So versuchen Betroffene gerade bei dynamischen Aktivitäten mit viel Kopfbewegung den Kopf möglichst still zu halten. Hierdurch bewegt sich die Umgebung nicht und die Betroffenen nehmen die Störung nicht wahr.
Auch hierbei handelt es sich um eine falsche Kompensation! Wird der Kopf konstant fixiert, so werden Kopfbewegungen bei dynamischen Aktivitäten wie z.B. beim Gehen nicht mehr möglich sein. Das heißt, beim Gehen den Kopf nicht zur Seite drehen können bzw. zur Seite schauen können, ist typisch für eine vestibuläre Unterfunktion! Die konstante Anspannung der Nackenmuskulatur kann langfristig ebenfalls zu Verspannungen und Schmerzen im Nacken führen. Die Verspannungen sind aber nicht die Ursache für den Schwindel, sondern die Konsequenz!
Eine vestibuläre Unterfunktion wird mit der sogenannten vestibulären Rehabilitationstherapie behandelt. Die Therapie beinhaltet Übungen zur Verbesserung der Augen-Kopf-Koordination, um das Defizit des vestibulo-okulären Reflexes „richtig“ zu kompensieren und besteht zudem aus einem gezielten Gleichgewichtstraining, wodurch die „falsche“ Kompensation durch das visuelle und somatosensorische System abtrainiert wird.
Diese Therapie ist nicht Teil der Grundausbildung von Physio- und Ergotherapeuten und erfordert eine Weiterbildung in diesem Bereich! Ich habe 2016 das Lehrinstitut für die vestibuläre Rehabilitationstherapie (IVRT) gegründet und mein Institut bildet seitdem im deutschsprachigem Raum Physio- und Ergotherapeuten aus. Alle Absolventen der Ausbildung zum Schwindel- und Vestibular-Therapeuten werden unter der "Therapeutensuche" auf der Internetseite des IVRT (http://www.ivrt.de/) übersichtlich auf einer Landkarte wiedergegeben. Unter der Seite "Therapeutensuche" wird auch erklärt, was auf der Verordnung stehen muss, damit die Krankenkassen die Therapiekosten übernehmen: Ärztliche Verordnung und Kassenerstattung.
Im Folgenden werden ich Ihnen Grundübungen vorstellen, wodurch Sie einen ersten Eindruck von der Therapie gewinnen können. Bitte beachten Sie, dass diese Übungen auf keinen Fall die (vom IVRT zertifizierten) Vestibular-Therapeuten ersetzen werden! Die Übungen hier sind stark komprimiert und vereinfacht worden, damit Sie von Laien verstanden und durchgeführt werden können.
Vestibuläre Rehabilitation | Therapie bei Schwindel - YouTube
So leicht die Übungen auch aussehen mögen, so ist eine Betreuung durch einen IVRT Therapeuten unbedingt notwendig! Genauso wie der Kieferorthopäde die Zahnspange „fester“ schraubt, so müssen auch die Übungen vom IVRT Therapeuten stets gesteigert werden. Die Übungen auf YouTube sind auf einem sehr niedrigen Niveau und gerade für anspruchsvolle Aktivitäten (wie das Gehen) wird nur eine stetige Steigerung und Variation der Übungen zum Erfolg führen! Suchen Sie sich daher bitte einen IVRT Therapeuten aus dem Verzeichnis des IVRT, der/die Sie während der vestibulären Rehabilitation betreut.
Liebe Kollegen, obwohl im Impressum betont wird, dass die Texte dieser Internetseite urheberrechtlich geschützt sind, kommt es leider doch vor, dass meine Texte ohne Genehmigung kopiert werden. Ich möchte daher erinnern, dass Personen, die das Urheberrecht verletzen, abgemahnt werden. Hierbei werden gewöhnlich Abmahngebühren in dreistelliger Höhe und Anwaltskosten fällig. Auch der entstandene wirtschaftliche Schaden kann eingeklagt werden.
Agrawal, Y., Carey, J. P., Della Santina, C. C., Schubert, M. C., & Minor, L. B. (2009). Disorders of balance and vestibular function in US adults: data from the National Health and Nutrition Examination Survey, 2001-2004. Arch Intern Med, 169(10), 938-944. https://doi.org/10.1001/archinternmed.2009.66
Agrawal, Y., Van de Berg, R., Wuyts, F., Walther, L., Magnusson, M., Oh, E., Sharpe, M., & Strupp, M. (2019). Presbyvestibulopathy: Diagnostic criteria Consensus document of the classification committee of the Barany Society. J Vestib Res, 29(4), 161-170. https://doi.org/10.3233/ves-190672
Bostwick, E. (2019). Ototoxicity [PDF]. Vestibular Disorders Association. Retrieved from https://vestibular.org/sites/default/files/page_files/Documents/Ototoxicity_45.pdf
Fetter, M. (2014). Vestibular system disorders. In S. Herdman & R. Clendaniel (Eds.), Vestibular Rehabilitation (4th ed.). Philadelphia (PA): F. A. Davis Company.
Girasoli, L., Cazzador, D., Padoan, R., Nardello, E., Felicetti, M., Zanoletti, E., Schiavon, F., & Bovo, R. (2018). Update on Vertigo in Autoimmune Disorders, from Diagnosis to Treatment. Journal of immunology research, 2018, 5072582-5072582. https://doi.org/10.1155/2018/5072582
Hain, T., Cherchi, M., & Yacovino, D. (2013). Bilateral vestibular loss. Semin Neurol, 33(3), 195-203. https://doi.org/10.1055/s-0033-1354597
Hain, T. (2019). Ototoxic medications. Retrieved 6 May 2020, from http://dizziness-and-balance.com/disorders/bilat/ototoxins.html
Hain, T. (2020a). Vestibular neuritis and labyrinthitis. Retrieved 6 May 2020, from http://dizziness-and-balance.com/disorders/unilat/vneurit.html
Horcajada, J. P., Montero, M., Oliver, A., Sorli, L., Luque, S., Gomez-Zorrilla, S., Benito, N., & Grau, S. (2019). Epidemiology and Treatment of Multidrug-Resistant and Extensively Drug-Resistant Pseudomonas aeruginosa Infections. Clin Microbiol Rev, 32(4). https://doi.org/10.1128/cmr.00031-19
Johnson, A., & Morata, T. (2010). The Nordic Expert Group for Criteria Documentation of Health Risks from Chemicals. 142. Occupational exposure to chemicals and hearing impairment. Gothenburg: Arbete och Hälsa, University of Gothenburg. Retrieved from https://www.norskoljeoggass.no/globalassets/dokumenter/drift/arbeidsmiljo/kjemisk-arbeidsmiljo/fagtema/horselsskadelige-kjemikalier/occupational-exposure-to-chemicals-and-hearing-impairment.pdf
National Institute on Deafness and Other Communication Disorders (2015). Vestibular Schwannoma (Acoustic Neuroma) and Neurofibromatosis. Retrieved 6 May 2020, from https://www.nidcd.nih.gov/health/vestibular-schwannoma-acoustic-neuroma-and-neurofibromatosis
Palla, A., Schmid-Priscoveanu, A., Studer, A., Hess, K., & Straumann, D. (2009). Deficient high-acceleration vestibular function in patients with polyneuropathy. Neurology, 72(23), 2009-2013. https://doi.org/10.1212/WNL.0b013e3181a92b7e
Piker, E. G., & Romero, D. J. (2019). Diabetes and the Vestibular System. Semin Hear, 40(4), 300-307. https://doi.org/10.1055/s-0039-1697032
Russo, F. Y., Ralli, M., De Seta, D., Mancini, P., Lambiase, A., Artico, M., de Vincentiis, M., & Greco, A. (2018). Autoimmune vertigo: an update on vestibular disorders associated with autoimmune mechanisms. Immunol Res, 66(6), 675-685. https://doi.org/10.1007/s12026-018-9023-6
Schubert, M. (2019). Vestibular disorders. In S. O’Sullivan, T. Schmitz & G. Fulk (Eds.), Physical Rehabilitation (7th ed.). Philadelphia (PA): F. A. Davis Company.
Sedo-Cabezon, L., Boadas-Vaello, P., Soler-Martin, C., & Llorens, J. (2014). Vestibular damage in chronic ototoxicity: a mini-review. Neurotoxicology, 43, 21-27. https://doi.org/10.1016/j.neuro.2013.11.009
Shupert, C., & Kulick, B. (2013). Labyrinthitis and Vestibular Neuritis. Retrieved 6 May 2020, from https://vestibular.org/labyrinthitis-and-vestibular-neuritis
Smith, P. F. (2018). Vestibular Functions and Parkinson's Disease. Frontiers in neurology, 9, 1085-1085. https://doi.org/10.3389/fneur.2018.01085
Somers, T., Kania, R., Waterval, J., & Van Havenbergh, T. (2018). What is the Required Frequency of MRI Scanning in the Wait and Scan Management? J Int Adv Otol, 14(1), 85-89. https://doi.org/10.5152/iao.2018.5348
Sommer, C., Geber, C., Young, P., Forst, R., Birklein, F., & Schoser, B. (2018). Polyneuropathies.
Dtsch Arztebl Int, 115(6), 83-90. https://doi.org/10.3238/arztebl.2018.083
Spiegel, R., Rust, H., Baumann, T., Friedrich, H., Sutter, R., Goldlin, M., Rosin, C., Muri, R., Mantokoudis, G., Bingisser, R., Strupp, M., & Kalla, R. (2017). Treatment of dizziness: an interdisciplinary update. Swiss Med Wkly, 147, w14566. https://doi.org/10.4414/smw.2017.14566
Strupp, M., Dieterich, M., & Brandt, T. (2013). The treatment and natural course of peripheral and central vertigo. Deutsches Ärzteblatt international, 110(29-30), 505.
Strupp, M., Kim, J. S., Murofushi, T., Straumann, D., Jen, J. C., Rosengren, S. M., Della Santina, C. C., & Kingma, H. (2017). Bilateral vestibulopathy: Diagnostic criteria Consensus document of the Classification Committee of the Barany Society. J Vestib Res, 27(4), 177-189. https://doi.org/10.3233/ves-170619